11.07.2020
Der Geologe ohne Eigenschaften
«Künstliche Intelligenz schlägt Dr.rer.nat» – so war kürzlich in einer Fachzeitschrift für Umwelttechnik zu lesen. Nicht lange zuvor hatte ein Artikel der MIT Technological Review im Titel gefragt «Wer braucht Kopernikus, wenn wir Maschinenlernen haben?» In beiden Fällen geht es um die Delegierung menschlicher Fähigkeiten an Systeme der Künstlichen Intelligenz (KI-Systeme).
Im ersten Fall handelt es sich um ein intelligentes automatisches Verfahren der Spektralanalyse; im zweiten Fall um ein von theoretischen Physikern an der ETH entwickeltes neuronales Netzwerk, das gelernt hat, vorgegebene geozentrische Daten über Planetenbahnen «von selbst» in heliozentrische Daten zu transformieren, also gewissermassen die Kopernikanische Revolution zu vollziehen.
Gewiss, auch Geologen sind auf chemische Analysen angewiesen, das heisst auf Tools wie automatische Minispektrometer. Müssen sie sich über die Konkurrenz durch KI-Systeme Sorgen machen? Obwohl die Deep-Learning-Forschung erstaunliche punktuelle Fortschritte verbucht, überschätzt man ihre Tools ebenso leicht, wie man die Fähigkeiten des Wissenschafters unterschätzt. Zweifellos kann es von grossem Nutzen sein, eine chemische Analyse von Mineralien in kürzester Zeit – womöglich im Feld – durchzuführen. Aber Datenanalysen entheben den Geologen nicht von der Aufgabe, Fragen über die grossen planetarischen ökologischen Zusammenhänge zu stellen. Das sind Fragen, die auch Imagination und Weitsicht verlangen.
Der mediale Enthusiasmus über KI tendiert dazu, sich an sich selbst zu verschlucken. Gewiss, Daten plus Algorithmen erweisen sich als effiziente Problemlöseinstrumente. Und es kommt immer wieder vor, dass Forscher übertriebene Erwartungen in neue Instrumente setzen. Aber diese Instrumente verstärken und erweitern bestenfalls die von Menschen ersonnenen Techniken. Die Gefahr besteht, in den Werkzeugen selbst nun künstliche «Forscher» wahrzunehmen, die den Menschen nicht bloss unterstützen, sondern tendenziell ersetzen, wenn nicht sogar «überwinden». Der französische Philosoph Michel Serres sprach bereits vor einiger Zeit mit kapriziöser Übertreibung vom Experten «ohne Fähigkeiten». Die «alten kognitiven Fähigkeiten, die wir für persönlich und subjektiv hielten,» würden nun «kollektiv und objektiv (...) Reden wir nicht mehr so, als hätte die alte Psychologie der geistigen Fähigkeiten noch Geltung.»
Doch, reden wir so – und zwar dezidiert! Die alten geistigen Fähigkeiten haben immer noch ihre Geltung. Wir müssen sie nur in der Konstellation der KI-Systeme neu gewichten. «Experte ohne Fähigkeiten» erinnert an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, den Protagonisten Ulrich aus dem gleichnamigen grossen Roman. Ulrich sieht sich eines Tages ebenfalls durch einen Bericht in den Medien irritiert und herausgefordert. Es ist nämlich die Rede von einem «genialen Rennpferd». Wenn nun schon Tiere «Genie» haben, so überlegt sich Ulrich, was soll denn der Mensch mit all seinem Genie anfangen. Er verfügt zwar darüber, aber «die Möglichkeit (seiner) Anwendung (kommt) ihm abhanden.» Dieses Abhandenkommen schlummert als verstecktes Risiko in den «genialen» KI-Systemen, aus uns Menschen «ohne Eigenschaften» zu machen.
Das ist kein zwangsläufiger Prozess. Zumindest solange nicht, als wir uns auf unsere Fähigkeiten zu besinnen wissen. Kennen wir sie überhaupt alle? In der Geologie der Zukunft – Geologie also im Horizont der KI-Systeme – gehört diese Frage zum begleitenden reflexiven Werkzeug. Auch wenn neue Instrumente den Hammer überflüssig zu machen scheinen, gilt mehr denn je: «Mente et Malleo».
Kann künstliche Intelligenz Visionen entwickeln?
El arte de visionar © Carlos Estevez